Wie ist es möglich, innerhalb einer (post-)modernen und pluralistischen Gesellschaft unter Bezugnahme auf Gott und der Anerkennung seiner Anwesenheit eine ethische Entscheidung so zu treffen, dass sie in ihrer rationalen Argumentation nicht nur auf subjektiver Ebene zu einer Handlungsmaxime gereicht, sondern auch in einem größeren und objektiveren Umfang von weiteren Teilnehmenden der Gesellschaft zumindest annäherungsweise nachvollzogen und verstanden werden kann?
Mit dieser zentralen Frage setzt sich die Vorlesungsreihe zur ›Praktischen Ethik aus islamischer Sicht‹ auseinander, die erstmalig im Wintersemester 2016/17 am Al-Mustafa Institut Berlin im Rahmen des Bachelorstudiengangs für Islamische Theologie von Prof. Dr. Mahdi Esfahani abgehalten und im Anschluss von Michael Nestler schriftlich ausgearbeitet wurde. Die Vorlesungsreihe, die entsprechend der stattgefundenen Lehrveranstaltungen 14 Kapitel umfasst, versucht schrittweise und aufeinander aufbauend ein praxisorientiertes Ethikmodell zu entwickeln, das in besonderer Weise den Koran sowie mit diesem im Einklang stehende islamische Überlieferungen berücksichtigt, um hieraus Kriterien abzuleiten, die für die genannte Fragestellung maßgeblich von Bedeutung sind.
Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen dabei die vor allem im Koran zum Ausdruck gebrachte existenzielle Grundstruktur des Menschen in seiner Beziehung zu Gott, zur Welt und zu seinen Mitmenschen und ein damit korrespondierender Vernunftbegriff, dessen Grundannahme die Existenz Gottes ist. Gleichzeitig bezieht die Diskussion aber auch andere philosophisch-ethische Vorstellungen vom ›guten Handeln‹ mit ein, um zum einen vorhandene Gemeinsamkeiten wie Unterschiede miteinander abzuwägen und herauszuarbeiten und zum anderen das im Ansatz spezifisch Eigene – und vielleicht auch Neue – besser verstehen und einordnen zu können. Und auch wenn man bei dem vorgeschlagenen Modell insgesamt von einem Modell der koranischen Ethik sprechen kann, so dass man hier hinsichtlich einer moralischen Entscheidungsfindung hauptsächlich von einer religiösen Grundlage ausgeht, so gilt für den weiteren Verlauf der Darstellung bzw. Ausführungen, dass ein ethisches Handeln, wenn man es umfassend verstanden wissen will, grundsätzlich nicht nur religiös begründet werden sollte, sondern ebenso durch eine Argumentation, die rein auf dem Intellekt beruht, wobei das eine das andere nicht ausschließt, wie die Vorlesungsreihe zu erkennen gibt.
Damit bieten die ›Vorlesungen zur Praktischen Ethik‹ insgesamt wichtige Ansatzpunkte für eine gemeinsame Verständigung verschiedener religiöser wie säkularer Akteure und Interessensgemeinschaften innerhalb einer modernen Gesellschaft und leisten gleichzeitig mit ihrer tiefgreifenden Analyse islamischer Leitbegriffe und den hieraus hervorgehenden Seinsvorstellungen einen wesentlichen Beitrag zur interkulturellen Annäherung zwischen muslimischer und nicht-muslimischer Welt, wo sich am Ende in beiden ›Heiliges‹ wie ›Profanes‹ gegenseitig durchdringen und auf die ein oder andere Art und Weise ineinander aufgehen.