Der am 16.12.2022 vom Al-Mustafa-Institut veranstaltete 6. Abend der Philosophie, Mystik und Theologie hatte die „Dialektik der Vernunft“ zum Thema.
Nach einer 15-minütigen Begrüßung und Einführung hielt als Erstes Prof. Dr. Hans Otto Seitschek von der LMU München einen Vortrag mit dem Titel „Philosophie und Mystik im Christentum“.
Der Vortrag von Prof. Seitschek analysierte ideengeschichtlich das wechselseitige Verhältnis von Philosophie und Mystik im Christentum. Der Referent stellte zunächst mit Platon, Plotin und Augustinus drei Philosophen vor, die zwar selbst keine Mystiker waren, aber in ihrem Denken der Mystik hilfreiche Einsichten gegeben haben. Dabei ging er etwas ausführlicher auf die Philosophie Platons ein. So stellte er das höchst abstrakte Gute nach Platon, Platons Liniengleichnis und den Bauplan der Seele nach Platon dar. Dabei werde deutlich, dass mit dem Aufstieg zum höchsten Sein (der Idee des Guten) das Erkennen immer komplizierter werde, allerdings die Gewissheit des Seins umso größer (Ewigkeit). Die Gegenstände der Erkenntnis würden immer abstrakter werden. Dies führte den Referenten zum Neuplatonismus, auf den er etwas näher einging. Beim Neuplatonismus sei das Eine das Ziel, er führe darum jede Vielheit auf die sie begründende Einheit zurück. Prof. Seitschek ging in der Folge näher auf Plotin (205-270 n. Chr.) ein. Bei Plotin sei das Eine (τὸἕν, tó hén) das höchste Prinzip, aus dem Einen fließt alles aus (Emanationslehre). Es stehe über Allem, sei „unverändert“ und „ununterschiedlich“. Nachdem er auf das Denken Plotins eingegangen war, wandte er sich dem Denken von Augustinus (354-430 n. Chr.) zu. Nach Augustinus seien Philosophie und Religion nicht voneinander verschieden. Diese Gleichsetzung von Philosophie und Religion bei Augustinus bedeute jedoch nicht, dass Religion und Philosophie miteinander vermengt werden. Wenn man es richtig verstehe heißt es bei Augustinus, dass das Christentum als Heilslehre nicht nur durch die göttliche Offenbarung, sondern auch in der philosophischen Systematik den antiken Heilslehren und Philosophien überlegen sei. Das frühe Christentum habe sich mit der Kraft des besseren Arguments auf der Agora der Philosophie durchgesetzt, v. a. gegen den Platonismus (kein allmächtiger Schöpfergott, Wiedergeburt der Seele).
Nachdem Prof. Seitschek auf diese drei Philosophen eingegangen war, stellte er die philosophischen Elemente der Mystik dar, die seiner Auffassung nach wesentlich für den Charakter der Mystik sind. Zunächst warf er die Frage auf, was eigentlich unter der christlichen Mystik zu verstehen sei. Dabei ging er anfangs auf die Herkunft des Wortes „Mystik“ ein, das aus dem Griechischen stammt.
Der Mystiker schließe sich ganz von der Welt ab, so der Referent, er gehe in sich, suche den Weg nach innen. Dort finde er Gott in der unio mystica, der mystischen Vereinigung (Einswerdung) mit Gott, in der Schau Gottes. Platons Gedanke der homoiôsis theô katà tò dýnaton (Verähnlichung mit Gott, soweit eine solche möglich ist, werde hier aufgegriffen. Licht sei nach der Auffassung der Antike ein feinflüssiger Stoff; in der Anschauung von etwas sei man demnach auch mit dem Angeschauten verbunden. Der Referent führte aus, dass Mystiker meist nicht über ihre mystischen Schauungen schreiben würden, sondern davon mündlich berichten würden, was wiederum von anderen aufgeschrieben werde. Im Ausdruck dieser Berichte würden philosophische Gedanken als Ausdrucksmittel und -hilfen verwendet werden, wobei er auf die Predigten Meister Eckharts verwies.
Abschließend warf der Referent die Frage auf, ob das Verhältnis zwischen Philosophie und Mystik eine Dialektik der Vernunft darstellen würde. Die Philosophie sei keine Mystik und die Mystik keine Philosophie. Prof. Seitschek warf die Frage auf, ob sich beide nun dialektisch gegenüberstehen würden. Beide grenzten sich nicht aus, die Philosophie gehe den Weg der (spekulativen) Vernunfterkenntnis, die Mystik greife die Einheits-und Teilhabevorstellung der platonischen Tradition auf und lebe sie. Die Philosophie sei also ein Ausdrucksmittel für mystische Erfahrungen, kein dialektisches Gegenüber. Die Begegnung mit der Mystik bereichere die Philosophie. Zum Abschluss verwies der Referent noch auf einige bekannte deutsche, spanische und griechische Mystiker.
Als zweiter Referent des Abends hielt Alexander Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Islamische Theologie JLU Gießen einen Vortrag mit dem Titel Imam Ghazali: Verdankte Vernunft und der Weg zur inneren Freiheit.
Der Referent bemerkte am Anfang seines Vortrags, dass das Eingehen auf die Anforderungen der Gegenwart zu den Aufgaben einer Theologie gehöre. Die Demokratie bedürfe eines Wertefundaments. Gleich zu Beginn schilderte der Referent seine zentrale These: Demnach sind die abendländische und die islamische Welt fest verwoben. Beide basierten auf der antiken Philosophie. Der Vortragende ging dann auf Leben und Werk des islamischen Denkers al-Ghazali ein. Al-Ghazalis Haltung zur Philosophie war durchaus zwiespältig. Obwohl al-Ghazali über gründliche Kenntnisse der antiken griechischen Philosophie verfügte, lehnte er die Philosophie als eigenen Weg zur Wahrheit ab. Er entfaltete somit eine Kritik der Philosophie, der Ibn Rushds Kritik der Kritik folgte. Al-Ghazali vertrat einen religiös motivierten Skeptizismus, der die Wahrheiten des Glaubens und der Offenbarung mit den Mitteln des philosophischen Zweifels gegen den Wahrheitsanspruch der Philosophie verteidigt.
Al-Ghazali unterschied religiöses Wissen und säkulares Wissen. Er kritisierte im religiösen Bereich das bloße Nachahmen (Taqlid) und wollte die Gläubigen zum richtigen Wissen führen. Seine Vernunftkritik entfaltete al-Ghazali dem Referenten zufolge mittels der Mystik, wobei er theoretische und praktische Vernunft unterschied. Die praktische Vernunft könne den Menschen zu ethischen Vollkommenheit führen, was ihn Würde verleihe und zur Krone der Schöpfung und zum Khalifa, zum Vertreter Gottes auf Erden, machen würde. Mit der Vernunft könne der Mensch den Urgrund der Welt erkennen, weshalb er auch Verantwortung übernehmen könne. Al-Ghazali unterscheide eine materielle und eine spirituelle Welt.
Als dritter Referent des Abends hielt Prof. Mahdi Esfahani seinen Vortrag mit dem Titel „Dialektik der Vernunft – eine islamische Annäherung“. Der Referent machte eingangs deutlich, dass angesichts der anderen Vorträge der Untertitel „eine islamische Annäherung“ zu vage sei und er ihn in „eine schiitische Annäherung“ ändern wolle. Dabei wolle er sich auf schiitische Texte des 1. bis 3. Jahrhunderts konzentrieren. Der Referent verwies am Anfang seines Vortrags auf das unterschiedliche Verständnis von „Dialektik der Vernunft“. Anschließend ging er zunächst näher auf die Dialektik ein, dieeine philosophische Methode des Denkens, aber nicht jede philosoph. Methode sei. Nach dem ursprünglichen Verständnis sollte man in einem Diskurs durch die Aufdeckung und Aufstellung der Widersprüche diese Widersprüche überwunden werden, wodurch man zur Wahrheit gelangen könne. Als Gegenstand seines Vortrags bezeichnete der Referent ein besonderes Verständnis des Intellekts. Er begann mit einem theologischen Einstieg. Im Ayat al Kursi (Thronvers) des Korans heiße es u.a. dass die Geschöpfe nichts vom Wissen Gottes kennen, außer das, was Er will. Mit einem Ausspruch des 6. Imams machte der Referent deutlich, dass es zwei Arten des Wissens gebe: Das Wissen, das nur Gott kennt, und das Wissen, dass Er seinen Geschöpfen mitgeteilt hat. Dadurch können zwei Ebenen des Wissens unterschieden werden: Das Wissen, das nur Gott kennt und das niemand anders hat, und das Wissen, an dem Er andere teilhaben lässt. Anschließend wandte sich Prof. Esfahani dem Verhältnis zwischen Wissen und Intellekt zu. In einer Überlieferung des 6. Imams zu Wissen und Intellekts heißt es, dass Gott den Intellekt erschaffen hat, d.h. dass der Intellekt demnach erschaffen ist. Der Intellekt sei demnach die erste Schöpfung in der geistigen Welt, erschaffen aus der segensreichsten „Ecke“ Gottes. Goitt habe den Intellekt als ein Wesen erschaffen – mit so vielen Köpfen, wie es Menschen gibt. Gott sei das Licht des Lichtes, der Schöpfer des Lichtes. Der Intellekt sei gewissermaßen Licht vom Lichte, das Lichtsein spiele eine entscheidende Rolle beim Wesen des Intellekts. Licht bedeute im Islam etwas, das von sich selbst aus leuchtet und anderes beleuchtet. Durch den Intellekt nehmen die Menschen anderes wahr.
Prof. Mahdi Esfahani führte anschließend aus der schiitischen Tradition einen von Imam Ali überlieferten Hadith des Propheten Mohammed zur Schöpfung des Intellekts an. Der Intellekt hat demnach das Wesen von einem Engel. Ein zentraler Punkt sei die Vielfalt in der Einheit. Alles beginne bei Gott, Seinem Wissen und der Schöpfung des Intellekts. Mit der Entschleierung des Intellekts fängt der Mensch an, sein Dasein wahrzunehmen. Im Prozess der Entschleierung werde in das Herz des Menschen Licht gelegt. Anhand dieses Lichts könne der Mensch verstehen, was gut und böse ist.
Abschließend ging der Referent noch auf die schiitische Endzeitlehre ein. Auf der Erde müsse Gerechtigkeit herrschen, obwohl sich Verdorbenheit verbreitet habe. Die Verbreitung von Gerechtigkeit sei verbunden mit dem Namen von Jesus Christus und dem 12. Imam. Der 12. Imam sei der vollkommene Mensch, der aus der Verborgenheit heraustrete. Dann müsse sich etwas im Intellekt der Menschen ändern. Am Ende der Zeit sorge dann die Rückkehr des 12. Imam für die Durchsetzung der Gerechtigkeit auf Erden.
Dem Vortrag von Prof. Esfahani schloss sich eine 30-minütige Frage- und Antwortrunde an. Um 20 Uhr war die Veranstaltung beendet.